Lilly Bernstein – Findelmädchen: Aufbruch ins Glück (Rezension)
Erscheinungsdatum: 28.07.2022
(Ullstein Taschenbuch, 592 Seiten, ISBN 3548065686)
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Inhalt
1955: Helga und Jürgen, die als elternlose Kinder nach dem 2. Weltkrieg von einem französischen Ehepaar aufgenommen wurden und einigen Leser*innen vielleicht noch aus dem Buch „Trümmermädchen: Annas Traum vom Glück“ bekannt sind, sind inzwischen Teenager und werden zehn Jahre nach Kriegsende von ihrem leiblichen Vater aufgespürt. Nachdem dieser aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt ist, holt er die beiden zurück nach Köln. Das Leben ist hier anders als in Frankreich, aber die Geschwister sind froh, zu ihren Wurzeln zurückzufinden – ein großer Wermutstropfen ist allerdings, dass niemand etwas über den Verbleib ihrer Mutter zu wissen scheint, nicht einmal deren Schwester Meta, bei der Helga, Jürgen und ihr Vater nun leben.
Helga schreibt gern und träumt davon, aufs Gymnasium zu gehen und später als Zeitungsredakteurin oder Schriftstellerin zu arbeiten. Stattdessen muss sie jedoch ihrem Vater in seinem Büdchen helfen und die Haushaltungsschule besuchen. Bei einem Praktikum im Waisenhaus wird sie mit schockierenden Zuständen konfrontiert: Vor allem die kleine dunkelhäutige Bärbel, Tochter einer Prostituierten und eines Besatzungssoldaten, wird dort gnadenlos schikaniert und misshandelt. Wird Helga ihr helfen können – und ihren eigenen Weg in einer Welt finden, in der alte und längst überholt scheinende gesellschaftliche Zwänge vorherrschen, die so gar nicht zu ihren eigenen Wünschen passen?
Meine Meinung
Lilly Bernstein hat mich bereits mit „Trümmermädchen“ sehr gepackt. „Findelmädchen“ ist zwar eine Fortsetzung der Geschichte, knüpft aber so lose daran an, dass man das Buch auch problemlos verstehen kann, ohne den ersten Band der Reihe zu kennen. Mit Helga steht diesmal eine andere heranwachsende junge Frau im Vordergrund, die darin nur eine kleine Nebenrolle gespielt hat, und umgekehrt taucht Anna, die Protagonistin aus „Trümmermädchen“, hier nur noch am Rande auf.
Helga personifiziert in dieser Geschichte die Wünsche, die viele Mädchen und junge Frauen in den 1950er Jahren gehabt haben dürften: ihre Erfüllung nicht nur in einer Heirat und anschließenden Existenz als Hausfrau und Mutter finden zu müssen, sondern sich zu bilden und selbst einen Beruf zu ergreifen. Dem entgegen stehen gesellschaftliche Konventionen und Vorurteile, aus denen zahlreiche Konflikte resultieren. Die neu erwachte Lebenslust der jungen Leute, die sich im Tragen neumodischer Blue Jeans und Petticoats sowie dem Besuch von Tanzveranstaltungen ausdrückt, wird von vielen Älteren argwöhnisch betrachtet. Vielfach werden hier Doppelmoral und unterschiedliche Maßstäbe deutlich, an denen junge Frauen einerseits und junge Männer andererseits gemessen werden.
Eine besonders interessante Figur war für mich auch Helgas etwas ältere Freundin Fanny, die unten in Helgas Wohnhaus mit Hilfe von Jürgen aus dem Nichts heraus eine Milchbar eröffnet – das gelebte Wirtschaftswunder sozusagen, aber das ist noch lange nicht alles, wofür Fanny in dieser Geschichte steht. Mehr über sie kann ich allerdings an dieser Stelle nicht verraten. Einige der anderen Charaktere waren mir dagegen etwas zu holzschnittartig gezeichnet, aber übermäßig störend fand ich das nicht.
Hatte ich in „Trümmermädchen“ noch den Schreibstil kritisiert, der mich an ein Kinderbuch erinnerte, so ist mir dieser in „Findelmädchen“ deutlich weniger missfallen. Auch hier wird sich zwar einer einfachen und leicht zu lesenden Sprache bedient, auf mich machte sie aber einen ausgefeilteren Eindruck und wurde dem Ernst der Thematik damit aus meiner Sicht gerechter.
Hochspannung wie bei einem Thriller ist in diesem Genre in aller Regel nicht zu erwarten und wird hier auch nicht geboten, aber ich wollte zum Beispiel unbedingt wissen, was nun mit Helgas Mutter passiert ist. Diesen Strang fand ich – auch dank mehrerer kurzer Rückblicke anhand von Tagebucheinträgen der Mutter – sehr überzeugend gestaltet. Manch andere Wendung in der Story war für mich dagegen etwas vorhersehbar, und in der Mitte hätte zum Teil vielleicht ein bisschen „knackiger“ erzählt werden können. Dennoch bot die Geschichte insgesamt einen sehr soliden Spannungsbogen und ich bin förmlich durch die knapp 600 Seiten geflogen.
Fazit
Mein Fazit zu „Findelmädchen“ fällt ähnlich aus wie das zu „Trümmermädchen“: Aus rein emotionaler Sicht würde ich dieser sehr packenden Geschichte gern die volle Punktzahl geben, aber da ich auch hier ein paar kleine Kritikpunkte in der Ausgestaltung anbringen musste, gibt es doch einen Abzug. Wenn ich beide Bücher direkt vergleiche, muss „Findelmädchen“ allerdings aufgrund des verbesserten Schreibstils insgesamt noch einen halben Punkt mehr erhalten als „Trümmermädchen“. 😉
Insgesamt kann ich beide Bücher sehr empfehlen. Vorkenntnisse aus „Trümmermädchen“ sind, wie bereits gesagt, zum Verständnis von „Findelmädchen“ nicht zwingend erforderlich, deshalb ist die Reihenfolge, in der man die Bücher liest, aus meiner Sicht zweitrangig.
Bewertung
(Danke an Ullstein Taschenbuch und Netgalley für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars. Keine weitere Vergütung erhalten.)