Delphine de Vigan – Nach einer wahren Geschichte (dt. von Doris Heinemann) (Rezension)
Erscheinungsdatum Hardcover: 24.08.2016
(DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, 352 Seiten, ISBN 978-3832198305)
Erscheinungsdatum Taschenbuch: 22.08.2017
(DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, 352 Seiten, ISBN 978-3832164256)
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Inhalt
Delphine ist eine erfolgreiche Autorin, leidet aber nach einer auszehrenden Lesereise zu ihrem jüngsten Buch, einem autobiographischen Werk über ihre Mutter, unter einer Schreibblockade. Auf einer Party lernt sie eine Frau kennen, die sie nur als „L.“ bezeichnet (im französischen Original gliedert sich das aufgrund des Gleichklangs zu „elle“ = „sie“ wahrscheinlich noch etwas besser in den Erzählfluss ein als im Deutschen). L. ist charmant und klug – und sie arbeitet zufällig (?) als Ghostwriterin.
Dankbar nimmt die überforderte Delphine ihre Hilfe an, und zwar nicht nur beim Schreiben, sondern zunehmend auch im Alltag, bis sich die Frage stellt: Wer ist L. eigentlich wirklich und welches Ziel verfolgt sie?
Meine Meinung
Auf dem Cover dieses Buchs steht zwar „Roman“, aber auch „Nach einer wahren Geschichte“, das ist sogar der Titel, und außerdem heißt die Hauptfigur genauso wie die Autorin und in deren vorausgehendem Buch ging es wirklich um ihre Mutter – also muss das hier ja ein Tatsachenbericht sein und alles ist genauso passiert, wie es da steht. Oder?
Das Thema – Schreibblockade einer berühmten Autorin, Ghostwriterin, die sich nach und nach immer mehr in ihre Arbeit und ihr gesamtes Leben drängt – klang für mich sehr interessant und auch ganz plausibel. Warum sollte es so etwas nicht geben?
Die Schilderung der Begegnung zwischen Delphine und L. und des Aufbaus ihrer Freundschaft kommt für meine Begriffe eher langsam in die Gänge, wirkt aber vielleicht gerade deshalb so realistisch. Im wahren Leben sind zwischenmenschliche Beziehungen ja eben tatsächlich meistens nicht von heute auf morgen da, sondern entwickeln sich mehr oder weniger langsam. Und wer wunderte sich in einem solchen schleichenden Prozess nicht selbst schon mal darüber, wie er oder sie nun eigentlich in genau DIESE Beziehung und vielleicht auch eine gewisse damit einhergehende Abhängigkeit hineingeraten ist?
Fragt man sich im weiteren Verlauf des Buchs an der einen oder anderen Stelle, warum Delphine L. gegenüber nicht schon früher misstrauisch wird, so ist das Ganze doch nie so absurd, dass man ihm sofort das Prädikat „Fiktion“ verleihen würde. Ja, das alles könnte genauso passiert sein.
Oder eben auch nicht, denn während L. – aus Delphines Sicht verständlich – als die Böse dargestellt wird, stellt sich nach und nach immer mehr die Frage, wer hier eigentlich „verrückt“ oder naiv ist. Letzteres vielleicht am ehesten man selbst, denn man fühlt sich doch ein wenig ertappt, als sich zusätzlich zu den Verstrickungen um Delphine und L. als zweites Hauptthema des Buchs die Frage nach Realität und Fiktion in Büchern und der Umgang der Leser*innen damit herauskristallisiert. Und am Ende – ganz buchstäblich – kann man sich wirklich nicht mehr sicher sein, was man hier nun gelesen hat – einen fiktiven Roman, einen Tatsachenbericht, eine Mischung aus beidem? Gibt es überhaupt eine klare Trennung?
Delphine de Vigan gelingt es mit einer bildreichen, aber gleichzeitig auch sehr klaren Sprache – hier möchte ich auch ausdrücklich die meiner Meinung nach sehr gelungene Übersetzung loben – und einer äußerst raffinierten Erzählweise, Grenzen zu verwischen und Fragen aufzuwerfen, die man sich bei den meisten Büchern nicht stellt. Zum Ende hin wird es spannend wie in einem Thriller und Erinnerungen an „Misery“ von Stephen King werden wach – eine geschickt eingebaute Referenz, die eine Urangst sehr vieler Schriftsteller*innen zum Ausdruck bringen dürfte.
Fazit
„Nach einer wahren Geschichte“ ist eine Herausforderung und vielleicht muss man das Buch auch mehrmals lesen, um wirklich alle Aspekte zu erfassen. Es war das erste Buch, das ich von Delphine de Vigan gelesen habe, aber bei weitem nicht das letzte. Mittlerweile zählt sie zu meinen Lieblingsautorinnen, und obwohl ich ihre anderen Bücher ebenfalls großartig finde (siehe auch „Loyalitäten“ und „Die Kinder sind Könige“), kehren meine Gedanken doch immer wieder zu diesem Buch zurück. Ganz große Erzählkunst!