Heidi Furre – Macht (dt. von Karoline Hippe) (Rezension)
Erscheinungsdatum: 14.02.2023
(DuMont Buchverlag, 176 Seiten, ISBN 3832182225)
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Inhalt
Liv lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Oslo und arbeitet als Pflegerin. Nach außen scheint ihr Leben perfekt, aber seit 15 Jahren trägt sie ein dunkles Geheimnis mit sich herum: Sie ist damals, mit Anfang 20, vergewaltigt worden, und viele alltägliche Dinge – vom Weg nach Hause nach einer Nachtschicht bis zum Gang zum Zahnarzt – sind schwieriger für sie als für andere. Und doch merkt niemand etwas, nicht einmal ihr Mann weiß Bescheid darüber, was ihr widerfahren ist.
Für Liv aber ist die Erinnerung allgegenwärtig – und als sie mit dem Bruder einer Patientin konfrontiert ist, der vor langer Zeit wegen eines sexuellen Übergriffs angeklagt war, setzt sie sich immer mehr auch mit der Rolle „ihres“ Täters auseinander und wird aktiv …
Meine Meinung
Heidi Furre lässt in „Macht“ eine Frau zu Wort kommen, die vergewaltigt wurde – aber kein Vergewaltigungsopfer ist, denn mit dieser Rolle findet sich Liv zu keiner Zeit ab. Während der Tat hatte der Täter (auch dieses Wort findet sie für sich schwierig) zwar Macht über sie, aber er hat ihr damit nicht dauerhaft die Macht über das eigene Leben genommen.
Liv schildert bedrückend, wie sie den „Vorfall“, wie sie es durchgängig nennt, zunächst für sich abhaken konnte, dieser sich dann aber insbesondere nach der Geburt ihres ersten Kindes, eines Sohns, wieder zunehmend den Weg in ihr Bewusstsein bahnte. Nachdem sie etwas später auch noch Mutter einer Tochter wurde, nahmen die Gedanken immer mehr zu: Kann sie ihre Kinder schützen, wo sie sich doch selbst manchmal so hilflos fühlt? In ihrer Familie bewegt sie sich immer in einem Spannungsfeld der scheinbaren Normalität und ihrer eigenen inneren Kämpfe, die ihr Verhalten als Mutter und Ehefrau beeinflussen.
Und immer wieder die Frage nach einem eigenen Schuldanteil. Nein, Liv wurde nicht nachts im dunklen Park überfallen, sondern ist freiwillig nach einer Party mit ihrem Vergewaltiger nach Hause gegangen. Hat sie nicht deutlich genug „nein“ gesagt, war es am Ende gar keine Vergewaltigung, sondern „nur“ nicht ganz einvernehmlicher Sex? Wo sind die Grenzen, was ist am Ende nur Wortklauberei? Livs Gedankenkarussell diesbezüglich verwirrt sie, verwirrt auch die Lesenden, aber es wird und bleibt deutlich: Selbstverständlich war es eine Vergewaltigung, und selbstverständlich trägt Liv daran keinerlei Schuld.
Im Außen passiert nicht viel in diesem Roman, aber in Liv arbeitet es. Sie will die Hoheit über ihr Leben zurückgewinnen, den Vergewaltiger konfrontieren, anklagen. Als ihr das schließlich – auf eher indirekte Art – sogar gelingt, kommen ihr wieder Zweifel: War das richtig, oder hat sie ihn nun verleumdet? Das Ganze ist ja schließlich schon lange her, war es damals „Absicht“ und erinnert er sich überhaupt noch richtig an sie und daran, was er getan hat? „Darf“ sie in sein jetziges Leben eingreifen?
Zuflucht und Trost findet sie immer wieder bei einer Freundin, die etwas Ähnliches erlebt hat, in der Kunst von Niki de Saint Phalle und bei ihrer Familie. Und nach und nach wird klar, dass Liv viel stärker ist, als sie sich selbst oft fühlt. Das zeigt Heidi Furre mit einer kraftvollen und eindrücklichen Sprache, die zudem von Karoline Hippe außerordentlich gut ins Deutsche übertragen wurde. Hier und da hätte ich mir ein Quäntchen mehr an Handlung gewünscht, das ist aber Kritik auf hohem Niveau. „Macht“ ist ein eindrücklich erzähltes Buch, das bei mir sicher noch lange nachhallen wird.
Fazit
Wut, Zweifel, Empowerment, Selbstreflexion und Selbstbestimmung – das sind die großen Themen, um die es in „Macht“ geht. Ein wichtiger Beitrag zum Thema sexuelle Gewalt und Rückeroberung des eigenen Selbst der Menschen, denen sie widerfahren ist, die aber dennoch nicht ihr Leben lang das Opfer der Tat bleiben wollen und müssen. Eine große Empfehlung von mir.
(Danke an Netgalley und den DuMont Buchverlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars. Keine weitere Vergütung erhalten.)