Kim de l’Horizon – Blutbuch (Rezension)

Buchcover Kim de l'Horizon Blutbuch
(Copyright: DuMont Buchverlag)

Erscheinungsdatum: 19.07.2022
(DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, 336 Seiten, ISBN 978-3832182083)

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Inhalt

Kim ist eine nicht-binäre Person, identifiziert sich also weder als Mann noch als Frau. In „Blutbuch“ geht Kim der mütterlichen Linie seiner*ihrer Familie nach: Wie sind Mutter und Großmutter (bzw. „Meer“ und „Großmeer“, wie es in Kims „Meersprache“, dem Berndeutsch, heißt) so geworden, wie sie sind, welchen Einfluss hatten sie auf Kims Kindheit und die Entwicklung von Kims Identität? Wie interpretiert die Großmeer Identität, fühlt sie sich doch nur als „zweite Version“ ihrer vor ihrer Geburt verstorbenen gleichnamigen Schwester? Und welche Bedeutung hat die Blutbuche, die ihr eigener Vater zu ihrer Geburt in seinem Garten gepflanzt hat und bei der Kim schon oft Zuflucht gesucht hat?

Meine Meinung

Kim de l’Horizon legt mit „Blutbuch“ einen autofiktionalen Roman vor, der die Leser*innen herausfordert. In fünf Teilen werden wir mit einer nicht-linearen Erzählweise sowie ganz unterschiedlichen Schreibstilen konfrontiert. Der letzte Teil ist sogar auf Englisch verfasst (eine Übersetzung ist am Ende beigefügt).

Man spürt beim Lesen förmlich, wie sich die Hauptfigur freischreibt und sich der eigenen Identität in der Vergangenheit mühsam nach und nach annähern musste. Kim distanziert sich von der eigenen Kindheit und nennt sich selbst nur „das Kind“, wenn er*sie von dieser Zeit spricht. Viele Erinnerungen sind nur Fragmente. Schon damals merkte Kim, dass er*sie sich weder eindeutig als Junge noch als Mädchen fühlt, auch wenn Mitschüler*innen behaupten, man könne nur das eine oder das andere sein. Der eigene Körper ist Kim fremd, er*sie merkt nicht, wo dieser Körper beginnt und wo er aufhört. Für mich eine der bildlichsten und nachvollziehbarsten Darstellungen eines nicht-binären Empfindens, das mir sonst oft sehr abstrakt erscheint.

Das Buch bricht radikal mit gewohnten Erzählstrukturen, bietet neue Sichtweisen, die vielen Menschen bisher wahrscheinlich unbekannt sind, schildert auch detailreich sexuelle Erlebnisse der Hauptfigur, die in ihrer Explizitheit, ja fast schon Vulgarität sicher Geschmackssache sind. Mir war es an einigen Stellen zu viel.

Und doch ist „Blutbuch“ eben auch eine Familiengeschichte. Kims Mutter beschäftigt sich schon ihr Leben lang mit den eigenen Vorfahrinnen, von denen zahlreiche als Hexen verunglimpft wurden, und hat deren Geschichten aufgeschrieben. Viele davon sind im Buch enthalten. Mag das der eine oder die andere zu ausschweifend finden, fand ich es interessant und passend. Mir gab es dafür ein paar zu lange Schilderungen zur Geschichte der Blutbuche. Und ich hätte gern mehr über Irma, die jüngste Schwester der Großmeer, erfahren, deren Schicksal trotz einiger Andeutungen weitgehend im Dunkeln bleibt.

Meine kleinen Kritikpunkte taten dem Leseerlebnis allerdings kaum einen Abbruch. „Blutbuch“ ist definitiv „mal was anderes“, etwas Neues, Kreatives und Innovatives, und ließ mich mit meinen Lesegewohnheiten brechen. Kim de l’Horizon findet eine eigene Sprache, die ich so noch nirgendwo anders gelesen habe – und wenn man sich darauf einlässt, findet man viel Wertvolles und Schönes darin, wenngleich natürlich ebenso vieles, das wehtut.

(*)

Fazit

„Blutbuch“ war für mich ein Experiment. Ich wollte es unbedingt lesen, nachdem es auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022 gekommen war, und mir selbst ein Bild davon machen. Es hat mir nicht durchgängig Spaß gemacht, das Buch zu lesen, aber die aufgebrochenen Erzählstrukturen, die Wortgewandtheit und die schiere Sprachgewalt taten das Ihre, um mich zu beeindrucken. Der Gewinn des Deutschen Buchpreises sowie auch des Schweizer Buchpreis 2022 sind definitiv gerechtfertigt.

Bewertung

(Danke an DuMont Buchverlag und Netgalley für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars. Keine weitere Vergütung erhalten.)

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2 Kommentare

  1. Ich gehe mit dieser Kritik nahezu eins zu eins mit 👍 … es gab eine Stelle, an der ich kurz vor dem Abbruch stand … das war dann aber nicht mehr wichtig, denn icv glaube, das Buch kann nur als Ganzes betrachtet werden … durch das weichere Bild, welches sich mir im letzten englischen Teil erschließt, konnte ich die derben Sexszenen vorübergehend ausblenden … ich bin über diese aber insgesamt schon erstaunt … bekennt er*sie sich dadurch nicht (irgendwie) zur Männlichkeit 🤔 …

  2. Hallo Karin, vielen Dank für das Lob und den interessanten Gedanken – tatsächlich habe ich aber auch in den expliziten Szenen eine Kombination aus „beidem“ herausgelesen, also sowohl traditionell eher als männlich geltender sowie eher als weiblich geltender Aspekte. Sicher lässt das Buch hier aber verschiedene Deutungen zu. Ich fand es wirklich interessant und ungewöhnlich!

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