Mohsin Hamid – Der letzte weiße Mann (dt. von Nicolai von Schweder-Schreiner) (Rezension)
Erscheinungsdatum: 16.08.2022
(DuMont Buchverlag, 160 Seiten, ISBN 3832182136)
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Inhalt
Anders versteht eines Morgens die Welt nicht mehr: Als er aufwacht, ist seine Haut plötzlich nicht mehr weiß wie bisher, ansonsten ist er aber noch ganz „der Alte“. Zuerst will er niemandem begegnen, meldet sich bei der Arbeit krank und erzählt nur Oona davon, mit der er zugleich befreundet ist und eine Affäre hat.
Nach und nach stellt sich aber heraus, dass er bei weitem nicht als einziger betroffen ist: Immer Menschen in seiner Stadt „verwandeln“ sich. Schnell kommt es zu Unruhen, weiße Menschen stellen bald die Minderheit dar und beäugen „die anderen“ kritisch. Aber die neuerdings dunkelhäutigen Menschen gehören nun auch keinesfalls ganz selbstverständlich zu denen, die es schon vorher waren. Wie geht es weiter in der Gesellschaft, insbesondere, nachdem mit Anders‘ Vater der titelgebende letzte weiße Mann gestorben ist?
Meine Meinung
Ein Instagram-Post des DuMont-Verlags, in dem der Hintergrund dieses Buchs erläutert wurde, machte mich neugierig: Der Autor Mohsin Hamid stammt aus Pakistan und hat in seinem Roman eigene Erlebnisse in überspitzter Form auf die Hauptfigur Anders übertragen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erlebte er selbst, wie viele Menschen ihn plötzlich explizit als „nicht weiß“ wahrnahmen und ihm gegenüber misstrauisch wurden, sei es durch verschärfte Kontrollen an Flughäfen oder auch bei Zugfahrten, die er mit Rucksack antrat. Das daraus resultierende Gedankenspiel fand ich spannend und wollte unbedingt wissen, was passieren könnte, wenn nach und nach immer Menschen plötzlich „nicht mehr weiß“ sind – und das war definitiv eine gute Entscheidung.
Neben Anders und Oona stehen in diesem Buch auch Anders‘ Vater und Oonas Mutter im Vordergrund. Sie gehen alle ganz unterschiedlich mit den Ereignissen um, was sich in ihrer persönlichen Beziehung zueinander widerspiegelt. Oona und Anders nähern sich unter den veränderten äußerlichen Voraussetzungen langsam neu aneinander an und stellen sich den Ereignissen gemeinsam. Besonders interessant fand ich auch die Reaktionen von Oonas Mutter, die eine Verschwörung wittert (von wem und mit welchem Ziel auch immer) – man kommt nicht umhin, hier Parallelen zu Verschwörungstheoretikern aus der realen Welt bezüglich aller möglichen aktuellen Themen zu ziehen.
Aber bleiben wir beim Thema dieses Buchs: Individueller und struktureller Rassismus brechen sich Bahn, nachdem zuerst einzelne und dann immer mehr Menschen plötzlich nicht mehr weiß sind. Eine Parabel auf die Gesellschaft, in der wir leben, und die es zweifellos zu hinterfragen gilt.
Mohsin Hamid hat das alles in einer sehr dichte, rasend schnelle Sprache gekleidet. Unheimlich lange Schachtelsätze (wie viele Kommata kann ein Satz haben? 😉 ) erzählen ganze „Geschichten in der Geschichte“, man hetzt durch das Buch wie in einem Fiebertraum. Das kann man mögen – oder auch nicht. Zum Verlauf der Geschichte passt es, für meinen Geschmack hätte es hier und da etwas gemächlicher zugehen können. Wo wir schon beim Thema Sprache und Stil sind, muss an dieser Stelle aber unbedingt auch die sehr gelungene Übersetzung hervorgehoben werden.
Fazit
„Der letzte weiße Mann“ bietet ein Gedankenspiel, das in dieser Form natürlich nicht Realität werden kann, wirkt dabei aber keinesfalls surreal (im Gegensatz etwa zu Kafkas „Verwandlung“). Die Figuren sind so lebensecht gestaltet, dass mir die Geschichte beim Lesen völlig plausibel schien – vielleicht, weil eben vieles daran doch sehr dicht an unserer Lebenswirklichkeit ist.
Eine reine Geschmacksfrage ist der besondere Schreibstil, der mir, wie bereits gesagt, nicht komplett zugesagt hat. Dennoch empfehle ich dieses Buch sehr gerne weiter, denn es behandelt ein wichtiges Thema und regt definitiv zum Nachdenken auch über eigene Muster und Verhaltensweisen an.
Bewertung
(Danke an den DuMont Buchverlag und Netgalley für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars. Keine weitere Vergütung erhalten.)